Die Konfrontation mit dem Selbst. Ständig.
Die Konfrontation mit dem Selbst. Ständig.

Die Konfrontation mit dem Selbst. Ständig.

Dieser Beitrag geht einem Beitrag von Dennis Przystow voraus, der noch nicht veröffentlicht wurde.

Selbstständigkeit mal anders verstanden.

Ich hatte eine kleine, feine Vorahnung: Da kommt was auf dich zu. Aber ich war gewappnet, alle formalen Angelegenheiten waren erldigt oder in Bearbeitung, fachliche Unterstützung gab es auch, und ich hatte wenig zu verlieren. Also: nächste Station Selbstständigkeit.

Der Anfang

Der übliche Trubel am Anfang. Kontakte knüpfen, Aufträge akquirieren, herausfinden, was für einen selbst funktioniert und was nicht. Handeln statt Grübeln. Gar nicht so leicht manchmal. Ich erinnere mich noch daran, wie ich mein Telefon durch hypnotisches Anblicken dazu überreden wollte, die herausgesuchten Telefonnummern potentieller Neukontakte selbst zu wählen und das alles ohne mein Zutun zu erledigen. Wer mich kennt, kann sich das eher schwer vorstellen. Als auffällig kommunikative Person nicht telefonieren zu können, das hat schon was. Aber irgendwann klappte es doch und alles fing an zu laufen.

Gerade in der Anfangsphase wurde ich mit vielen gut gemeinten Hinweisen überhäuft, ebenso wie mit Sorgen und Ängsten. Der wohl berühmteste Spruch: Selbstständig ist man Selbst und ständig. Eigentlich impliziert das, dass man als Selbstständiger 24/7 arbeiten muss, weil das (Berufs-)Leben als Selbstständiger nun mal daraus besteht, dass man seine Träume zum Beruf macht und deshalb ununterbrochen arbeitet. Ich sehe das anders, aber dazu ein ander Mal.

Selbst. Ständig.

Was ich erst später an dieser Floskel verstand: Du bist Selbst, und das ständig. Als ich mich selbstständig gemacht habe, war ich von dem Moment an in einer Art mit mir Selbst, mit meinem Wesen konfrontiert, die ich bis dahin so intensiv nicht erlebt hatte. Es gibt hier mit Sicherheit unterschiedliche Typen, aber da mein Beruf sehr viel mit der Identität von Menschen zu tun hat, kommt es zwangsläufig zu einer Spiegelung des eigenen Selbst in dem Auseinandersetzen mit dem anderen. Das Selbst ist auf einmal im Fokus. Und das ständig. Eine Masse an Fragen entstand bei mir. Mache ich das richtig? (Eine Frage ohne Mehrwert, denn die Antwort darauf ist: ja und nein. Denn es ist egal, solange du etwas machst. Erst dann kann man sehen, ob die eine Idee für einen persönlich funktioniert oder eben nicht.) Werde ich erfolgreich sein? Wo finde ich passenden Kontakte? Hat er mich verstanden? Muss ich mich verstellen, um nicht zu auffällig zu sein? War das zu sehr ich gerade? Was habe ich gesagt, dass sie so reagiert? Wie kann ich das ändern? Was ist der nächste (kommunikative) Schritt? Wie bin ich? Wer bin ich? Puh! Und damit bin ich bei den existentiellen Fragen gelandet. Beim Selbst. Und dieses befindet sich nun dauerhaft in aktiviertem Status.

Meine große Aufmerksamkeit gegenüber kommunikativem Verhalten macht es manchmal spannend, manchmal aber auch schwer für mich, nicht alles auf mich persönlich zu beziehen. Man weiß, wo man steht, wenn man sieht, wie andere auf einen reagieren, wenn man ihnen etwas anbietet, was sie wollen oder was sie nicht wollen. Verkaufen kann viel über das Selbst erzählen. Jeder Kundenkontakt kann neue Aspekte des Selbst aufzeigen, mit denen man vorher nicht gerechnet hat.  Was das Gute an der Spiegelung durch Andere ist: Sie reagieren auf mein Verhalten in dem spezifischen Moment, nicht aber auf mein Selbst als philosophische Entität, auf mein Wesen, das ist, wenn man so will. Ich bekomme also ein direktes Feedback für mein Verhalten in der jeweiligen Situation und kann daraus lernen, auf gewisse Dinge noch mehr zu achten, an entscheidender Stelle nachzuhaken oder loszulassen. Ich kann daraus auch Konsequenzen für langfristig festgesetzte Verhaltens- oder Gedankenmuster ziehen. Aber eines bleibt den Anderen doch verschlossen: der Zugang zu meiner Person.

Die Grenze des Selbst

Diese Unterscheidung festzusetzen ist mitunter aufwendig und lang andauernd. Ich bin überzeugt, dass viele den Unterschied nicht erkennen oder bemerken zwischen der situativen Person und der untemporären Persönlichkeit. Deswegen rate ich auch nicht jedem Menschen, sich selbstständig zu machen. Wer jedoch ein Interesse oder ein unstillbares Bedürfnis daran hat, seine eigenen Grenzen und vor allem Weiten zu erfahren, wer weiterkommen möchte, wer sich selbst frei entfalten möchte in dem eigentlichen, unbedingten Wortsinn, wer bereit ist, Abenteuer und Risiko miteinander zu vereinbaren, wer sich in den Gegenwind stellt um sein eigenes Rückrat zu stärken, wer nach Niederlagen aufsteht und weitergeht, wer sein Selbst gleichsam fürchtet und sich darauf freut, der wird sich in der Selbstständigkeit vermutlich besser zurecht finden als in einem Angestelltenverhältnis. Das wichtige aus meiner Sicht ist: Wenn man erkennt oder erahnt, wer, wie, was man selbst ist, dann kann ich mich dagegen wehren und wie in einem Wasserstudel kräftezehrend herausschwimmen wollen oder ich kann mich annehmen und aus den scheinbaren Nöten kennzeichnende Tugenden werden lassen.

Ich würde gerne sagen: Ich habe das bereits hinter mir. Doch wir erinnern uns: Wir sind Selbst, und das ständig. Sich selbst zu sehen ist ein Prozess. Die Selbsterkenntnis ist jedoch, nach graecophilosphischem Ansatz, der notwendige Schritt zur Selbstverwirklichung.

„Du sollst der werden, der du bist“ (Nietzsche)

Sprachlich betrachtet hängen diese Begriffe – Selbsterkenntnis, Selbstverwirklichung, Selbstständigkeit – natürlich dadurch miteinander zusammen, dass sie das Selbst als Vorsilbe einbinden. Das Selbst steht am Anfang. Das Interessante an der Selbstständigkeit: Sie hat ja nicht nur mit einem ständigen Selbst zu tun (im Sinne einer Identität), sondern auch mit dem (festen) Stand, mit Beständigkeit, mit Sicherheit. Interessant hieran: In unserer Kultur gilt das Selbstständige als das Unstete, das Freie und damit das Unbeständige. Doch die Worte sagen uns etwas Anderes: Wer alle hinreichenden und notwendigen Kriterien erfüllt, wer sich in ständiger Auseinandersetzung mit seiner Umwelt zu dem geformt hat, der er/sie selbst ist, der wird sicher sein. Denn dann wissen wir: Es kann nichts passieren, egal, was kommt, innen wie außen. Das dauert zum Glück ein Leben lang.

 

Es hat ja niemand gesagt, dass es leicht wird.

Aber es ist möglich.